KoM@ING - Kom­pet­en­zmod­el­lier­ungen und Kom­pet­en­zentwicklung, in­teg­rierte IRT‐­basierte und qual­it­at­ive Stud­i­en bezo­gen auf Math­em­atik und ihre Ver­wendung im in­genieur­wis­senschaft­lichen Stu­di­um - Teil­pro­jekt Pader­born

Auf der Basis verschiedener theoretischer Zugänge wurden bei ausgewählten elektrotechnischen Aufgaben kognitive Aufgabenanalysen durchgeführt, um die Wissens- und Könnens-Anforderungen bei der Aufgabenlösung  zu identifizieren und kompetenzorientiert beschreiben zu können. Hierbei wurden einerseits Experten und andererseits Studierende in Bezug auf ihr Vorgehen bei der Aufgabenbearbeitung befragt und beobachtet sowie zusätzlich Bearbeitungen aus Klausuren herangezogen. Im Kontext dieser Aufgabenanalysen sollten folgende Fragestellungen untersucht werden:  

  1. Welche Anforderungen müssen Studierende der Elektrotechnik beim Lösen mathematikhaltiger Aufgaben in der Elektrotechnik bewältigen und welche Kompetenzen und Ressourcen werden dazu benötigen?  
  2. Mithilfe welcher Vorgehensweisen und Wissensressourcen werden die entsprechenden Aufgabenstellungen bearbeitet? 
  3. In welchem Verhältnis stehen dabei mathematische und elektrotechnische Aufgabenanforderungen?  
  4. Mithilfe welcher (kognitionstheoretischen) Kategorien und Konzepte lassen sich die Kompetenzanforderungen bei der Lösung entsprechender Aufgabenstellungen in der Elektrotechnik valide beschreiben bzw. modellieren?  

Zur Untersuchung der Fragestellungen wurden kognitive Aufgabenanalysen bei Experten der elektrotechnischen Vorlesungsaufgaben durchgeführt, die gebeten wurden, die Aufgaben zu lösen und dabei laut zu denken. Ziel der Auswertung war die systematische Identifizierung und Beschreibung effektiver Vorgehensweisen bzw. Strategien und der dabei verwendeten (Wissens-)Ressourcen. Außerdem sollten explizite und implizite Kompetenzerwartungen der Dozenten bezüglich der Lösung entsprechender Aufgabenstellungen ermittelt werden. Auf dieser Basis sollen generalisierbare Kategorien und Konzepte zur Beschreibung der Kompetenzanforderungen bei der Lösung solcher Aufgaben entwickelt werden, die beschreiben. Die Kategorienbildung erfolgt einerseits deduktiv anhand unterschiedlicher theoretischer Zugänge (Modellierungskreislauf nach Blum & Leiß (2005), Problemlösephasen nach Polya (1945, 1949), Konzept erkenntnistheoretischer Spiele und kognitiver Ressourcen nach Tuminaro (2004), Tuminaro & Redish (2007), mathematische Argumentation und mathematische Ressourcen (Redish/ Bing, 2008) und andererseits induktiv anhand der Sichtung der Interviewtranskripte.
In einem dritten Arbeitsschritt werden die kognitiven Aufgabenanalysen durch die Untersuchung  des Lösungsverhaltens von Paaren von Studierenden bei den genannten Aufgabenstellungen vertieft, welche per Video aufgezeichnet, transkribiert und mithilfe strukturierter Inhaltsanalysen ausgewertet werden.

Ergeb­n­isse

Zentrale Ergebnisse des Paderborner Teilprojekts beziehen sich auf die Entwicklung theoretischer Zugänge zur Charakterisierung, Analyse und Modellierung von Problemlöse- und Wissensanforderungen bei mathematikhaltigen elektrotechnischen Aufgabenstellungen in entsprechenden Grundlagenvorlesungen sowie die Ergebnisse der oben beschriebenen kognitiven Aufgabenanalysen bei Experten bzw. Lehrenden und Studierenden der Elektrotechnik. Zentrale Ergebnisse der kognitiven Aufgabenanalysen mit den Elektrotechnikexperten sind einerseits sog. Musterlösungen der analysierten Aufgabenstellungen, in denen detailliert beschrieben wird, welche Lösungsschritte erforderlich sind und welche Wissensressourcen herangezogen werden müssen, um die jeweilige Aufgabe idealtypisch zu lösen. Diese werden durch die fortlaufenden Analysen immer weiter verfeinert. Diese bilden eine Grundlage für die Auswertung und Interpretation der Lösungsstrategien bei den Studierenden erarbeitet.    Die inhaltsanalytischen Auswertungen zeigen folgende Besonderheiten bzw. kognitiven Anforderungen bei der Lösung elektrotechnischer Aufgaben:

  1. Studierende müssen kein “Realmodell” selbst entwickeln (wie es im Modellierungskreislauf vorgeschlagen wird), sondern müssen stattdessen die in der Elektrotechnik verwendeten konventionalisierten Realmodelle mit ihren impliziten Idealisierungen verstehen.  
  2. Studierende müssen keine allgemeinen Problemlösestrategien wie beispielsweise “Erstelle ein Diagramm” einsetzen, sondern stattdessen spezifische Strategien wie die Verwendung von speziellen diagrammatischen Systemen der Elektrotechnik, die Mathematisierungsprozesse unterstützen.  
  3. Studierende müssen keine allgemeinen Problemlösestrategien wie “Suche nach Analogien” verwenden, sondern orientieren ihre Lösungsprozesse an protypischen Beispielen, die eher in den Übungen als in der Vorlesung behandelt werden. 
  4. Die benötigten mathematischen Ressourcen können nicht als Teil einer “Welt der Mathematik” angesehen werden: Stattdessen gibt es ein Eintreten in eine “Mathematik mit (physikalischen) Größen”, die eine Bedeutung in der Elektrotechnik haben. Die Studierenden benötigen “Gleichungsmanagement” und “Einheitenmanagement” als mathematische Ressourcen. Diese Strategien unterscheiden sich von dem, was in den universitären Mathematikkursen verwendet wird. Die Studierenden benötigen spezielle mathematische Praktiken, die sich von denen in den Mathematikvorlesungen unterscheiden im Bereich von Vektoren, Differentialen, Formeln und Funktionen, Integralen.  
  5. Die Authentizität der Probleme liefert gute Strategien zur Validierung der Ergebnisse, z. B. sind hier Validierungen mit Hilfe von Größenordnungen und Einheiten der Ergebnisse ein zentrales Hilfsmittel.  

Die Annahme der mathematischen Modellierungsansätze, dass bei mathematischen Anwendungsaufgaben zunächst eine Realsituation (der „Rest der Welt“) betrachtet und hierzu ein fachspezifisches Modell entwickelt wird, an das eine mathematische Modellierung anschließt, konnte somit nicht bestätigt werden. In unseren Analysen zeigten sich vielmehr deutliche Unterschiede folgender Art: Die Unterscheidung zwischen Mathematik und dem ”Rest der Welt” ist nicht aufrecht zu erhalten. Die Bearbeitung elektrotechnischer Aufgaben ohne mathematische Methoden ist nicht denkbar. Gleichungsmanagement und Gleichungsaufstellen sind untrennbar verwoben und eben nicht getrennt wie im Modellierungskreislauf.

Biehler, R., Kortemeyer, J. & Schaper, N. (in press). Conceptualizing and studying students’ processes of solving typical problems in introductory engineering courses requiring mathematical competences. In: Proceedings of CERME 9.

Biehler, R., Schaper, N., & Kortemeyer, J. (2014). Hilft der sogenannte Modellierungskreislauf Lösungsprozesse bei ingenieurwiss. Anwendungsaufgaben besser zu verstehen? In: Roth, J., Ames, J. (Hrsg.) Beiträge zum Mathematikunterricht 2014 - Band 1, (Seite 647-650). Münster, WTM-Verlag. [LINK]

Hennig, M.; Hoppenbrock, A.; Kortemeyer, J.; Mertsching, B. & Oevel, G. (2014). Werkstattbericht der Arbeitsgruppe „Mathematik in den Ingenieurwissenschaften“. in: Wassong, Th.; Frischemeier, D.; Fischer, P.R.; Hochmuth, R.; Bender, P. (Hrsg.). Mit Werkzeugen Mathematik und Stochastik lernen - Using Tools for Learning Mathematics and Statistics (S. 471-486), Springer Spektrum  

Biehler, R.; Schaper, N.; Kortemeyer, J. (2013). Mathematikbezogene Kompetenzmodellierung in der Studieneingangsphase elektrotechnischer Studiengänge im Projekt KoM@ING. In: A. Hoppenbrock; S. Schreiber; R. Göller; R. Biehler; B. Büchler; R. Hochmuth & H. G. Rück (Hrgs.), khdm-Report Nr. 1, Universität Kassel. [LINK]

Biehler, R,; Schaper, N.; Kortemeyer, J. (2013). Konzeptionalisierung von Lösungsprozessen bei mathematikhaltigen Elektrotechnik-Aufgaben. In: G. Greefrath; F. Käpnick & M. Stein (Hrsg.), Beiträge zum Mathematikunterricht 2013 - Band 1 (S. 544-547). Münster, WTM-Verlag. [LINK]

Wissenschaftler/innen

Prof. Dr. Rolf Biehler
Prof. Dr. Niclas Schaper
Jörg Kortemeyer